Berlin-Dossier, Nr. 10

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“ Mit diesen Worten reagierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drei Tage später bei einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages auf den brutalen russischen Überfall Russlands auf die Ukraine. Weiter führte er aus: „Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.“ Dafür wurde ein Sondervermögen Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro bestückt und: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, so der Bundeskanzler. Das war vor über zwei Jahren.

Und wie ist aktuell der Status quo? Von den 100 Milliarden Euro wurden erst 2023 gerade einmal knapp 6 Milliarden ausgegeben. Allerdings soll das Sondervermögen bis Ende 2024 fast vollständig verplant und laut Bundesverteidigungsministerium voraussichtlich im Laufe des Jahres 2027 auch fast vollständig ausgegeben sein. Allerdings beläuft sich der gesamte Modernisierungsbedarf bei der Bundeswehr auf satte 300 Milliarden Euro, glaubt man der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Eva Högl. Und was das 2 Prozent-Ziel beim Verteidigungshaushalt betrifft, ist Deutschland 2023 nicht über 1,52 Prozent hinausgekommen. Auch 2024 wird es nicht viel anders sein.

Dabei ist man sich in Expertenkreisen ziemlich einig: In einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren könnte Russland zu einem Angriff auf das NATO-Territorium fähig sein. Für Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist damit klar: „Wenn wir einem Angriff etwas entgegensetzen wollen, ihn am besten durch Abschreckung verhindern wollen, dann müssen wir jetzt damit beginnen.“ Das heißt für ihn: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Doch davon sind wir – leider – meilenweit entfernt.

Eine der letzten Wasserstandsmeldungen, bei denen es einem heiß und kalt den Rücken herunterlief, lautete: Die Munition der Bundeswehr reicht lediglich für ein bis zwei Tage Kriegseinsatz. Bei der NATO stellt man sich wenigstens 30 Tage vor. Allerdings ist das Problem nicht wie eine Naturkatastrophe über die Bundeswehr hereingebrochen. Die Probleme sind seit Jahren bekannt. Insofern kam es denn auch nicht von ungefähr, dass der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, am Morgen des russischen Überfalls auf die Ukraine seiner Frustration über den Zustand der Bundeswehr Luft machte und auf „LinkedIn“ konstatierte: „…die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Doch sein Hilferuf verhallte mehr oder weniger ungehört.

Bei der Debatte des Bundestages über den Wehrbericht im April dieses Jahres wurde einmal mehr deutlich: Trotz aller Ankündigungen und Versprechungen der verantwortlichen Politiker hat sich nicht viel geändert und die Bundeswehr weiter Personal-, Material- und Finanzprobleme. Und das ist leider nicht die einzige Hürde auf dem Weg, dass Deutschland schnellstmöglich kriegstüchtig wird. Denn nicht nur in der Bundeswehr braucht es einen Mentalitätswechsel, sondern in der gesamten Gesellschaft. Insofern, und das sei hier nur nebenbei bemerkt, sprang der Bundeskanzler in seiner Zeitenwende-Rede seinerzeit auch viel zu kurz, als er sich ausschließlich auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr konzentrierte. Denn die Bereitschaft, das eigene Land zu verteidigen, ist in Deutschland nicht besonders ausgeprägt. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das RTL/ntv-Trendbarometer zeichnete im Februar dieses Jahres ein düsteres Bild: Auf die Frage, ob sie bereit wären, Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs auch selbst mit der Waffe zu verteidigen, antworten 59 Prozent „wahrscheinlich nicht“ oder „auf keinen Fall“. 38 Prozent wären nach eigener Aussage „auf jeden Fall“ oder „wahrscheinlich“ dazu bereit. Mit der „Resilienz der Gesellschaft“, um die es nach den Worten von Generalinspekteur Carsten Breuer bei der Kriegstüchtigkeit Deutschlands auch geht, sieht es also nicht besonders gut aus.

Das war aber schon einmal anders. Bis zum Fall der Mauer, als es noch die Wehrpflicht gab und hinter jedem aktiven Soldaten zwei einsatzbereite Reservisten standen, hätte die Bundeswehr in kürzester Zeit 1,5 Millionen Soldaten in Stellung bringen können und bildete damit das Rückgrat der konventionellen Verteidigung der NATO im Falle eines Angriffs des Warschauer Paktes. Heute sind es gerade einmal 250.000 Mann, nachdem hinter drei Soldaten nur noch ein einsatzbereiter Reservist steht. Von der einstigen Rolle ist demnach nicht mehr viel geblieben.

Neben den militärischen Implikationen ist es vor allem die fehlende gesellschaftliche Einbettung der Streitkräfte, die negativ zu Buche schlägt. Als der wehrpflichtige Rekrut am Wochenende seiner Mutter seine schmutzige Wäsche gab, stand die Bundeswehr sicht- und fühlbar in der Mitte der Gesellschaft und der „Staatsbürger in Uniform“ als gelebte Realität im Raum. Doch mit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 durch den christsozialen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg war damit zunehmend Schluss. Heute ist die Bundeswehr zu einem Dienstleister verkommen, der es der Gesellschaft ermöglicht, sich ungeachtet aller noch so nahen Krisen und Kriege bequem zurückzulehnen – ganz nach dem Motto: Stell’ Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Vergessen wird dabei nur allzu leicht: Dann kommt der Krieg zu Euch.

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die Diskussion über eine Wiedereinführung einer Wehrpflicht immer wieder aufflackert. Doch unabhängig davon, welche Fähigkeiten die Soldaten von morgen mitbringen müssen, dürfte eine wie auch immer geartete Wehrpflicht nur sehr schwer in absehbarer Zeit umsetzbar sein. Denn alle Strukturen, die es für Erfassung, Musterung, Einplanung und Verwendung der Dienstpflichtigen braucht, sind mehr oder weniger abgeschafft worden.

Ein interessanter Vorschlag, über den es nachzudenken lohnt, ist der der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sie will die 900.000 potentiellen Reservisten – alle ehemaligen Wehrdienstleistenden und länger verpflichteten Soldaten der Bundeswehr – aktivieren, von denen ein Kenner der Materie sagt: „Wir wissen nicht, wo sie sind, und was sie können.“ Und er hat so seine Zweifel, ob ein solches Unterfangen überhaupt durchsetzbar und möglich ist. Denn beim Bundeskanzler, der sich ja als Friedenskanzler inszeniert, und der SPD-Partei- und Fraktionsspitze, für die Begriffe wie Militär und Pflicht synaptisch ohnehin nur schwer in Einklang zu bringen sind, erfährt der Bundesverteidigungsminister nicht den notwendigen Rückhalt. Und dann ist da ja noch der Datenschutz, der in Deutschland – anders als in den meisten anderen europäischen Ländern – fast jedes Projekt bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder gänzlich in die Knie zwingt.

Wie auch immer: Wenn es nicht gelingt, neben der Lösung der Personal-, Material- und Finanzproblemen die Einbettung der Bundeswehr in die Gesellschaft hinzubekommen, wird es am Ende nach den Worten eines ehemaligen Bundeswehr-Generals so sein, dass im Falle eines Falles Deutschlands Beitrag zur Verteidigung der europäischen Freiheits- und Friedensordnung die „Organisation der Feldpost“ sein wird. Für das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land in der Europäischen Union nun wirklich kein Ruhmesblatt. Für Russlands Präsident Wladimir Putin aber vielleicht gerade die Form von Ermunterung, seine russischen Großmachtsfantasien auch in die Tat umzusetzen.

Von Detlef Untermann

Detlef Untermann ist ein deutscher Journalist und Kommunikationsmanager, der auf eine über 40-jährige Erfahrung im Medien- und PR-Bereich zurückblicken kann. Mehr unter "Über den Autor" auf dieser Webseite und auf Wikipedia.

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