Berlin-Dossier, Nr. 14

Es ist schon ausgesprochen tragisch. Deutschland geht es so schlecht wie lange nicht mehr und plagt sich ab mit Problemen, die zu einem Großteil auch noch hausgemacht sind. Und die zwei stärksten Regierungsparteien haben mittlerweile jeglichen Realitätssinn verloren.

Bekanntlich fängt der Fisch ja vom Kopf an zu stinken. Insofern kann es nicht verwundern, dass Olaf Scholz fest von einer zweiten Amtszeit im Bundeskanzleramt ausgeht – ungerührt von allen einschlägigen Umfragen zu seiner Kanzlertauglichkeit und angespornt von seinem SPD-Parteifreund Karl Lauterbach: „der beste Bundeskanzler, den wir je gehabt haben“. Dagegen lassen die jüngsten Wahlergebnisse schön grüßen und für die Sozialdemokratie eher Böses ahnen. Denn der doch unerwartete Erfolg in Brandenburg ist ja nicht wegen, sondern trotz Scholz zustande gekommen. Jedenfalls hat die Erwartungshaltung des Bundeskanzlers mit der Realität nichts mehr zu tun.

Aber auch in Sachfragen haben sich die Sozialdemokraten bzw. ihre Spitze weit von der Realität entfernt. Schaut man sich die Positionierung des Kanzlers und der Parteispitze in Sachen Ukraine an, möchte man sich die Haare raufen. Während der Kanzler immer wieder irgendwelche roten Linien für Deutschland und nicht etwa für Russland zieht, schwadroniert der SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich darüber, ob es nicht an der Zeit sei, “dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Renommierte Wissenschaftler wie Heinrich August Winkler bezeichnen das als „hochgefährliche Realitätsverweigerung“ und „kurzsichtigen Friedensbegriff“.

Bedauerlicherweise leiden nicht nur Sozialdemokraten an Realitätsverlust, auch die Grünen bewegen sich fernab jeglicher Realität. Am deutlichsten wird das aktuell beim Thema Migration, bei dem 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung die Vorstellungen der Grünen ablehnen. Selbst CDU und SPD sind sich diesbezüglich einig und werfen den Grünen Realitätsverweigerung vor. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woitke brachte es auf den Punkt und warf seinem grünen Koalitionspartner vor, er würde „den Kopf in den Sand strecken“, und sich weigern, „die Realität zur Kenntnis zu nehmen“. Pikanterweise sind eben die Grünen mit der Ministerin Ursula Nonnenmacher für die Integration im Lande verantwortlich. Insofern kann die Quittung, die die Brandenburger Wähler den Grünen ausgestellt haben nicht verwundern. Der Rausschmiss aus dem Landtag war mehr oder weniger zwangsläufig. 

Für Ricarda Lang, ihres Zeichens Bundesvorsitzende der Grünen, sind sowieso grundsätzlich die anderen schuld an den Wahldebakeln ihrer Partei: „Es ist ja schon so ein bisschen Volkssport geworden, Grüne zu hassen.“ Und das nur deswegen, weil über ihre Partei „viel schwachsinniger Kram unterwegs“ sei. Kann man so sehen, muss man aber nicht – zumal es der Partei nicht wirklich weiterhilft.

In welchem Paralleluniversum weitab jeglicher Realität sich die Grünen befinden, kann man auch daran sehen, dass sie im November Robert Habeck als Kanzlerkandidaten auf den Schild heben wollen – und das bei bundesweiten Umfragewerten in einer Größenordnung von 10 bis 12 Prozent. Wenn der Sinkflug so weiter geht, brauchen die Grünen keinen Kanzlerkandidaten, sondern einen Überlebenskünstler.

Das sehen offensichtlich auch drei dereinst erfolgreiche Grünenpolitiker aus Hessen so und attestieren ihrer Partei „ein Ausmaß an Ignoranz gegenüber der derzeitigen Lage der ganzen Partei, das man besorgniserregend nennen muss.“ Ob Heizungsgesetz, Kindergrundsicherung, Asylrecht oder Klimapolitik: Hubert Kleinert, Jochen Partsch und Daniela Wagner legen ihre Finger tief in die Wunden. Politischen Widersacher könnten es nicht schärfer formulieren: Realitätsverweigerung, ideologische Rechthaberei, Naivität in der Migrationspolitik, Bevormundung und Gängelung der Bürger. Das hat gesessen, aber die Wahrheit ist oft schmerzhaft.

Zur Wahrheit gehört auch ein Blick auf die dritte Regierungspartei, die FDP. Die bewegt sich in den oben genannten Politikfelder weitestgehend noch auf vernünftigen Pfaden, kommuniziert allerdings in einer Art und Weise, dass man nur noch den Kopf schütteln kann. Denn entweder wird auf eigene politische Erfolge erst gar nicht oder nicht konsequent genug hingewiesen, oder es kommt ziemlich arrogant daher, wie die Aussage von FDP-Chef Christian Lindner: „Machen Sie sich keine Sorgen um die FDP, das krieg’ ich alles wieder hin!“ Wenn man sich die Wahlergebnisse der Freien Demokraten insbesondere in den ostdeutschen Ländern ansieht, fragt man sich unwillkürlich: „Ja wie denn das?“ Denn eine Partei, die von den Menschen Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft erwartet, hat angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Grundstimmung doch eher schlechte Karten.

All das ist für Deutschland nicht gut. Schlimmer noch, es hilft populistischen Parteien wie AfD und BSW, die Wähler mit ihren teils kaum zu ertragenden Versprechungen zu ködern. Große Hoffnung, dass sich in absehbarer Zeit etwas grundsätzlich ändert, besteht allerdings nicht. Wahrscheinlich muss alles noch viel schlimmer werden, damit einige zur Besinnung kommen. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.

Von Detlef Untermann

Detlef Untermann ist ein deutscher Journalist und Kommunikationsmanager, der auf eine über 40-jährige Erfahrung im Medien- und PR-Bereich zurückblicken kann. Mehr unter "Über den Autor" auf dieser Webseite und auf Wikipedia.

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