Das waren noch Zeiten anno 1964. „Im anscheinend krisenfesten Wohlstandsstaat ist an Stelle der Dauerdepression der permanente Super-Boom, an Stelle der Arbeitslosigkeit der Arbeitermangel, an Stelle der dreißig und mehr Parteien der Dreiparteienstaat getreten“, schrieb der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel in „Aus Politik und Zeitgeschichte“. „Die totalitären Bewegungen sind von der Bühne abgetreten, die Wirkungslosigkeit der totalitären Ideologien scheint erwiesen, das parlamentarische Regierungssystem funktioniert reibungslos, die bestehende Staatsform wird von niemandem offen bekämpft, von allen politisch maßgeblichen Parteien und Verbänden auch innerlich bejaht, von der politischen Publizistik nicht in Frage gestellt, und alle, alle stehen auf dem Boden der Verfassung.“ Heute im Deutschland des Jahres 2023 sieht vieles, wenn nicht sogar alles anders aus. Und Staatsverdrossenheit macht sich breit.
Nach einer Befragung für die Beamtengewerkschaft dbb ist das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des deutschen Staates auf einen neuen Tiefstand gesunken. Danach gehen nur noch 27 Prozent davon aus, dass der Staat in der Lage ist, seine Aufgaben etwa in der Bildungs-, Flüchtlings- oder Klimapolitik zu erfüllen. Die jüngste Pisa-Studie, wonach die Leistungen 15-jähriger Schüler in Deutschland in den Bereichen Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften noch nie so schlecht waren wie im vergangenen Jahr, ist ein trauriges Zeugnis dafür. In der Flüchtlings- und Energiepolitik ist die Lage nicht besser und die Unzufriedenheit groß.
Viele können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Staat seinen originären Aufgaben nicht mehr ausreichend nachkommt. Schlimmer noch, es verfestigt sich der Glaube: Die da oben machen doch, was sie wollen. Und während man die Kleinen hängt, lässt man die Großen laufen. Die Erinnerungslücken von Bundeskanzler Olaf Scholz im Kontext der Cum-Ex-Affäre lassen grüßen.
Dabei ist es sogar noch viel Schlimmer. Jedenfalls hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. November 2023, dass das Gesetz über den Zweiten Nachtragshaushalt 2021 verfassungswidrig ist, den Blick auf eine Praxis gerichtet, die mehr als bedenklich erscheint. So haben die Karlsruher Verfassungshüter seit 1951 sage und schreibe 529 Normen der Bundesebene und 289 Normen der Länderebene als verfassungswidrig beanstandet – die Entscheidungen des Jahres 2023 noch nicht mitgerechnet. Das sind insgesamt über 800 Normen, die zumindest erst einmal die Frage aufwerfen: Was für Juristen waren da am Werke?
Allerdings ist das nicht das eigentliche Problem. Denn redet man mit Vertretern betroffener Ministerien, dann erfährt man, dass man sich dort in dem einen oder anderen Fall der Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Norm sehr wohl bewusst gewesen ist. Auf die zwangsläufige Frage, warum sie denn dann so verfasst worden sei, erhält man – nicht schlecht staunend – die bemerkenswerte Antwort: „Wir haben damit Zeit gewonnen.“
Um Zeit geht es auch beim zweiten Beispiel dafür, mit welchem Selbstverständnis der Staat sich an Recht und Gesetz hält – oder eben nicht. Nach dem 2017 in Kraft getretenen Online-Zugangsgesetz, kurz OZG, hätten Bund und Länder bis Ende 2022 ihre gesamten Verwaltungsleistungen digitalisieren müssen. 575 hätten es sein sollen, die digital anzubieten gewesen wären. Geschafft hat man gerade einmal 4 Prozent, was 23 Verwaltungsdienstleistungen ausmacht, die zum Stichtag bundesweit flächendeckend verfügbar waren. Mittlerweile sind es immerhin 147, die aber auch nur 25 Prozent ausmachen.
Wer nun meint, Vater Staat würde jetzt ranklotzen, um nicht Geschafftes schnellstens nachzuholen, der irrt. In dem vom Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzesentwurf für das OGZ 2.0 gibt es keine Fristen mehr. Wer in der Bundesregierung darauf gekommen ist, dass Thema am 24. Mai dieses Jahres auf die Tagesordnung zu setzen, muss Humor gehabt haben – es war der Tag der Weinbergschnecke.
Aber unser Staat hat ja auch Wichtigeres zu tun, als „unser Land moderner, bürgernäher und digitaler zu machen“, wie Bundesinnenministerin Nancy Fauser vor sich hin träumte. So ermittelte jetzt der Nationale Normenkontrollrat, ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung, für seinen Jahresbericht 2023, dass der jährliche Erfüllungsaufwand – also der Preis der Bürokratie – im Berichtszeitraum um rund 9,3 Mrd. Euro auf insgesamt rund 26,8 Mrd. Euro gestiegen ist. Dies war einer der höchsten Sprünge seit Beginn der Aufzeichnung des Erfüllungsaufwands und ein Anstieg um 54 Prozent gegenüber dem vorangegangenen Berichtszeitraum.
Aber 1.920.000 Beamte, Richter und Soldaten sowie 3.287.000 Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst wollen auch beschäftigt und ihr Geld wert sein. Immerhin sind alleine die 1,8 Millionen Beamten ausnahmslos in der privaten Krankenversicherung versichert und erhalten nach 40 Dienstjahren ein durchschnittliches Ruhegehalt in Höhe von 3.227 Euro – was fast das Doppelte einer Durchschnittsrente nach 45 Arbeitsjahren in Höhe von 1.636 Euro ausmacht. Das kann sicherlich nicht endlos so weitergehen.
Aber vielleicht sorgt ja das oben erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für eine gewisse Disziplinierung. Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP jedenfalls hat in einem Gespräch mit Gabor Steingart für den Pioneer Podcast schon mal eine Richtung vorgegeben, die weiterhelfen könnte: „Ich bin überzeugt, man kann auch sehr gute Politik ohne Geld machen. Die Erneuerung unserer Wirtschaft und die Rückkehr auf einen Wachstumspfad, das kann man kostenfrei erreichen, indem wir weniger Bürokratie durch Regulierung zulassen, mehr marktwirtschaftlichen Klimaschutz und zusätzliche Anreize für private Investitionen. Diese Angebotsseite der Wirtschaft zu stärken, kostet den Staat kein Geld. Er kann sogar öffentliches Geld sparen.“ Man kann nur hoffen, dass sich solche Ideen, auch wenn SPD und Grüne sowie Teile der CDU dies gänzlich anders sehen, durchsetzen. Deutschland hätte es dringend nötig.
Die Vielfalt der Probleme, der verpassten Chancen, die machtpolitisch begründete mangelnde Weitsicht, Realitätsverweigerung, verkümmernde Eigeninitiative und Anspruchsdenken, kurzum: spätrömische Dekadenz!
Suhlen wir weiter im wohlfühligen Neoprenanzug, und wenn er verrottet, Hauptsache gut gelebt, nach mir die Sintflut.
Stimmt. Finde ich auch falsch
Interessant wäre es mal, die Ursachen dieser Entwicklung zu analysieren. Hier nur die Schwachstellen der Politik und der öffentlichen Verwaltung aufzuzeigen, greift zu kurz. Es gibt insgesamt ein Versagen der Eliten, auch und gerade in der Privatwirtschaft. Auch das Verweisen auf die Beamtenpensionen ist wenig hilfreich, wenn zugleich die unmoralischen Ruhestandsbzüge der Manager der Privatwirtschaft ausgeblendet werden. Auch das trägt zur Staatsverdrossenheit bei. Aber auf diesem Auge ist gerade die FDP blind
Die Gehälter der Chefs von Berlins Beteiligungunternehmen sind aber auch nicht schlecht – eine kleine Auswahl:
BER 518.000 €
Friedrichstadtpalast 513.000 €
IBB 483.000 €
Messe Berlin 479.000 €
Wasserbetriebe 431.000 €
BSR 427.000 €
BVG 412.000 €
Vivantes 386.000 €
VISIT Berlin 335.000 €
berlinovo 325.000 €
Sehr gut beobachtet und der Humor, hilft den Computer vor Wut über das Unvermögen der Politik, nicht aus dem Fenster zu werfen.
Weiter so! Dem Schreiber, nicht der Politik